Medienmitteilung 05.09.2019
Fachleute der Opferhilfe fordern umfassende Reform des Sexualstrafrechts
Bern, 05.09.2019
Anlässlich einer Fachtagung am 5. September 2019 nimmt das Nationale Fachgremium Sexuelle Gewalt an Frauen Stellung in der Debatte um eine Reform des Sexualstrafrechts. Opferhilfestellen aus der deutschsprachigen Schweiz kritisieren in einem gemeinsamen Appell die heutige Rechtslage und fordern eine umfassende Revision des Schweizer Sexualstrafrechts. Eine solche ist nicht nur vor dem Hintergrund der im Dezember 2017 ratifizierten Istanbul-Konvention des Europarats erforderlich, sondern auch gesellschaftspolitisch dringend notwendig.
Das Nationale Fachgremium Sexuelle Gewalt an Frauen unterstützt die Einführung eines Sexualstrafrechts nach dem Konsensprinzip. Das heisst, dass sexuelle Handlungen ohne gegenseitige Einwilligung angemessen bestraft werden können.
Die Forderung nach einer Reform beruht auf der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR geteilten Ansicht, dass die sexuelle Selbstbestimmung als Teil der persönlichen Integrität besonderen Schutz verdient und dass jede sexuelle Handlung ohne Einwilligung einer der beteiligten Personen eine Verletzung von grundlegenden Menschenrechten ist.
Kritik am heutigen Sexualstrafrecht
Der heutige Vergewaltigungstatbestand geht von einem stereotypen Sexualdelikt aus, das in keiner Weise der Realität von sexuellen Übergriffen entspricht. Dieses stereotype Delikt geht vom fremden Täter aus, der das Opfer gewalttätig überfällt und Spuren hinterlässt. Das stereotype Opfer wehrt sich, hat Verletzungsspuren und erstattet umgehend Anzeige. Die Realität sieht anders aus: In den meisten Fällen ist der Täter den Frauen bekannt und es besteht ein Vertrauensverhältnis. Die meisten Übergriffe geschehen in zunächst harmlosen Momenten, zudem ist die typische natürliche Reaktion einer Frau eine Schockstarre oder Lähmung, das sogenannte Freezing, und nur in den wenigsten Fällen eine körperliche Gegenwehr. Das geltende Recht, das ein Nötigungsmittel voraussetzt, wird zwar dem stereotypen Übergriff gerecht, nicht aber der grossen Mehrheit der Übergriffe. Die meisten Täter müssen keine Gewalt anwenden, da sie die Überforderung des Opfers und das Vertrauensverhältnis ausnutzen.
Das Fachgremium findet es falsch und äusserst bedenklich, dass von den betroffenen Frauen indirekt verlangt wird, dass sie sich körperlich zur Wehr setzen und ihnen damit letztlich die Verantwortung dafür zugeschoben wird, dass der Übergriff rechtlich überhaupt als sexuelle Gewalt eingeordnet werden kann.
Das geltende Sexualstrafrecht zementiert Vergewaltigungsmythen, indem es das Opferverhalten in den Fokus nimmt, anstatt sich darauf zu konzentrieren, ob eine beidseitige Einwilligung vorgelegen hat. Dadurch werden die Opfer abgewertet und die Vorwürfe, die sie sich ohnehin bereits selber machen („Warum habe ich mich nicht stärker gewehrt?“), werden institutionell noch verstärkt. Dies hält viele Frauen von vornherein davon ab, Anzeige zu erstatten, wodurch die meisten Täter straffrei davonkommen. Die Folge ist, dass sexuelle Gewalt bagatellisiert und unsichtbar gemacht wird.
Erwartungen an ein revidiertes Sexualstrafrecht
Sexualdelikte sind typischerweise Vier-Augen-Delikte und sehr schwierig zu beweisen. Daran würde auch ein revidiertes Sexualstrafrecht nichts ändern. Was sich aber ändern würde: Ein Sexualstrafrecht nach dem Konsensprinzip würde die Haltung wiederspiegeln, dass jegliche Formen von sexueller Gewalt unrecht sind und angemessen geahndet und bestraft werden müssen. Das Fachgremium findet es nicht legitim, eine Strafrechtsnorm nur daran zu messen, ob es zu mehr Anzeigen und Verurteilungen führt. Denn nicht wenige Frauen erstatten Anzeige als wichtigen Schritt in ihrem Verarbeitungsprozess, obwohl sie sich der Chancenlosigkeit wegen den Beweisschwierigkeiten bewusst sind. Für diese Frauen ist es ein wesentlicher Unterschied, ob ein Verfahren mangels Beweisen eingestellt wird oder weil die Tatbestandsmerkmale von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung nicht erfüllt sind. Nach dem Konsensprinzip ist es ausreichend, wenn eine Frau Nein sagt, weint oder sonst wie kundtut, dass sie mit den sexuellen Handlungen nicht einverstanden ist ("Nein heisst Nein"-Prinzip). Mit einer „Ja heisst Ja“-Regel würde auch den Momenten Rechnung getragen, in denen ein Opfer nicht in der Lage ist Nein zu sagen; sei es aus Überforderung, aus Angst um Leib und Leben oder wegen eines Machtgefälles. Nach einer Reform müsste die Frau im Idealfall bei den Einvernahmen nicht mehr ihr Verhalten rechtfertigen und erklären, warum sie sich nicht gewehrt hat.
Betroffene Frauen würden durch eine neue Gesetzgebung bestätigt bekommen, dass ihnen Unrecht widerfahren ist und dass ihr instinktives Gefühl sie nicht trügt. Das Nationale Fachgremium Sexuelle Gewalt an Frauen ist überzeugt, dass dies die Frauen bestärkt und dazu führen würde, dass sie vermehrt Anzeige erstatten. Das Fachgremium erwartet, dass es richtigerweise zu mehr Verurteilungen kommen würde. Erste Zahlen aus Deutschland, wo der Grundsatz "Nein heisst Nein" seit November 2016 gilt, bestätigen diese Effekte einer Gesetzesänderung.
Es ist davon auszugehen, dass ein Sexualstrafrecht nach dem Konsensprinzip auch präventive Wirkung hat. Sexualstraftaten sind heute in der Schweiz ein risikoarmes Delikt, was nicht zuletzt auch den Tätern bewusst ist.
Erwartungen an die Politik
Seit vielen Jahren setzen sich schweizweit Beratungsstellen für Frauen für einen besseren Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt ein. Allein im Jahr 2018 haben sich pro Woche im Schnitt 90 Opfer von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung an die Opferhilfestellen gewandt. All diese Frauen wurden völlig unerwartet in ihrem intimsten Bereich zutiefst verletzt. Viele weitere Opfer schweigen, obwohl die sexuelle Gewalt gravierende Folgen auf ihr Leben hat.
Die Opferhilfestellen, die tagtäglich das Leid der Frauen erleben, fordern angesichts dieser Zahlen, dass die Politik sexuelle Gewalt an Frauen endlich als vordringliches gesellschaftliches Problem wahrnimmt und ihr konsequent entgegenwirkt. Das Fachgremium erachtet eine Reform des Sexualstrafrechts aus gesellschaftspolitischer wie auch aus menschenrechtlicher Perspektive als unumgänglich und erwartet von der Politik, dass der Ratifizierung der Istanbul-Konvention Taten folgen. Das Fachgremium unterstützt auch die Petition von Amnesty International Schweiz "Stopp sexuelle Gewalt" vollumfänglich.
Das Fachgremium ist überzeugt, dass die Zeit für einen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht reif ist. Sexualität muss auf Einvernehmlichkeit beruhen und der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung muss in den Vordergrund gerückt werden.
Das Nationale Fachgremium sexuelle Gewalt an Frauen
Beratungsstelle für gewaltbetroffene Frauen in Thurgau www.frauenberatung-tg.ch
Frauenberatung sexuelle Gewalt in Zürich www.frauenberatung.ch
Beratungsstelle Frauen Nottelefon, Opferhilfe für Frauen gegen Gewalt in Winterthur www.frauennottelefon.ch
LANTANA Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt in Bern www.lantana-bern.ch
VISTA Fachstelle Opferhilfe bei sexueller und häuslicher Gewalt in Thun www.vista-thun.ch
Opferberatungsstelle des Kantons Luzern in Luzern www.opferberatung.lu.ch
Opferhilfe SG-AR-AI in St. Gallen www.ohsg.ch
BENEFO Fachstelle Opferhilfe in Thurgau www.opferhilfe-tg.ch
Beratungsstelle Opferhilfe in Biel www.opferhilfe-biel.ch
Solidarité Femmes Beratungsstelle Frauenhaus in Biel www.solfemmes.ch
Opferhilfe beider Basel limit / Frauenberatung gegen Gewalt in Basel www.opferhilfe-bb.ch
Nationales Fachgremium Sexuelle Gewalt an Frauen
Im Nationalen Fachgremium Sexuelle Gewalt an Frauen treffen sich zweimal jährlich Fachfrauen, welche in der Deutschschweiz in Beratungsstellen zum Thema sexuelle Gewalt an Frauen arbeiten. Bei den meisten Beratungsstellen handelt es sich um anerkannte Opferhilfeberatungsstellen.
Die Treffen dienen dem fachlichen Austausch, der Vernetzung der Beratungsstellen, der Organisation von Weiterbildungen für die Mitarbeiterinnen der am Fachgremium vertretenen Beratungsstellen sowie von öffentlichen Aktionen zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen.
Kontaktperson für Fragen / Interview:
Agota Lavoyer / 076 418 98 18 / lavoyer@lantana-bern.ch
Stv. Leiterin und Opferhilfeberaterin
LANTANA - Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt
Mitglied Nationales Fachgremium Sexuelle Gewalt an Frauen